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Demonstration für die Weiternutzung von Atomstrom.
© Florian Blümm/Nuklearia
Tagesspiegel Plus

Atomkraft? Was denn sonst!?: Unterwegs in der Szene der Kernenergie-Ultras

Neben einem Endlager wohnen? Kein Problem. Rainer Klute und seine Gruppe fordern seit Jahren die Rückkehr zur Atomkraft. Werden ihre Ziele nun mehrheitsfähig?

Ihr Stammtisch steht in Sichtweite des Kanzleramts, im Biergarten Zollpackhof in Mitte. Dort treffen sich die Berliner Mitglieder der Bewegung Nuklearia, um neue Aktionen zu besprechen und sich auszutauschen. Vor ein paar Tagen haben sie mal wieder demonstriert.

Rund dreißig Leute, vom Nutzen der Kernkraft überzeugt, trafen sich vor dem Bundesumweltministerium und warben für längere Laufzeiten der letzten drei noch arbeitenden deutschen Atomkraftwerke. Ihr Hauptargument: Kernkraft sei die beste Energie, um den Klimaschutz voranzubringen.

Die Debatte ist in vollem Gang. Die Energiewende war auf russisches Gas gestützt – ein gigantischer politischer Fehler. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor Monaten ankündigte, neue Kernkraftwerke bauen zu lassen, fragten sich auch in Deutschland immer mehr Menschen, ob der Kernkraft-Ausstieg 2011 klug war.

Im ARD-Deutschlandtrend vom Juni sprachen sich 61 Prozent der Befragten für längere Laufzeiten der Atomkraftwerke aus, 56 Prozent waren für eine stärkere Nutzung von Kohlekraftwerken. Das galt für die Anhänger aller Parteien – außer für die der Grünen. Die waren mehrheitlich dagegen, Kernenergie oder Kohle weiter zu nutzen.

Die Nuklearia demonstrieren seit langem für mehr Atomkraft. Dank der Gaskrise finden sie nun mehr Gehör.
Die Nuklearia demonstrieren seit langem für mehr Atomkraft. Dank der Gaskrise finden sie nun mehr Gehör.
© Florian Blümm/Nuklearia

Für die Leute von Nuklearia ist das nichts Neues. In ihrer Broschüre mit dem Titel „Klimakrise? Kernkraft! 12 unschlagbare Argumente für die beste Energiequelle der Welt“ heißt es über Atomkraft: „Sie ist ein intelligentes Backup für die Erneuerbaren und kann mit ihnen zusammen unsere CO2-Bilanz nachhaltig senken.“

Eine Seite weiter findet man den „Fun Fact“, dass 30 Prozent des in Deutschland hergestellten Stroms im Jahr 2000 aus Atomkraftwerken kamen – und das Emissionsziel für 2030 schon jetzt erreicht worden wäre, hätte man damals stärker auf Wind- und Solarkraft gesetzt und Kohlekraftwerke vom Netz genommen.

Physik und Mathematik: Das ist das Material, aus dem Nuklearia-Argumente sind.

Ich bin der einzige echte Naturwissenschaftler in der Familie – deswegen muss ich mit denen meist nicht streiten.

Adrian Glaubitz, Physiker

Die drei vom Stammtisch im Zollpackhof – nur die Spree trennt sie vom Kanzleramt – haben entsprechende Neigungen. „Nerds“ seien die meisten, sagt Florian Brümmer mit einem Grinsen. Physiker, Informatiker. Sie guckten erst auf die Fakten, dann auf die Gefühle, die Ängste. Brümmer, 43, hat lange von seinem Südost-Asien-Reiseblog gelebt, war in Thailand unterwegs – bis Corona dieser Existenzweise ein Ende machte. Als Informatiker will er jetzt einen Job suchen, möglichst im Bereich Kernenergie.

Ähnlich ist es mit Adrian Glaubitz. Er ist Physiker, arbeitet am Fachbereich Physik der Freien Universität und antwortet auf die Frage, wie denn Familie und Freunde auf sein Engagement für die Atomenergie reagierten: „Durchgehend positiv!“ Er sei in der Familie „der einzige echte Naturwissenschaftler – deswegen muss ich mit denen meist nicht streiten“.

Die Stimmung wird sich ganz schnell drehen, wenn die Menschen ihre Stromrechnung bekommen

Eric Danielski, Atomkraft-Fan

Eric Danielski, 34, ist einen anderen Weg gegangen. Er studierte Geschichte und Philosophie auf Lehramt und wurde „über die Skeptiker-Vereinigung“, wie er trocken bemerkt, auf Nuklearia aufmerksam. Die „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ will laut ihrer Internetseite kritisches Denken fördern und befasst sich dabei mit Psychoanalyse ebenso wie mit Astrologie.

Danielski wurde durch die „Skeptiker“ auf erwähnten „Fun Fact“ aufmerksam, dass Deutschland ohne den Atomausstieg zig Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid weniger freigesetzt hätte. „Die Stimmung wird sich ganz schnell drehen, wenn die Menschen ihre Stromrechnung bekommen“, sagt er und meint damit Atomkraftgegner.

Alle drei gehören zu rund dreißig Nuklearia-Aktivisten, die regelmäßig demonstrieren – vor Kraftwerken, um für deren Weiterbetrieb zu werben, oder vor dem Umweltministerium, um von der Bundesregierung noch mehr zu fordern, als die aktuell geben möchte.

Dort redete vor knapp zwei Wochen auch der US-Autor Michael Shellenberger, der seit Jahren den Klimawandel erforscht. Sein Buch „Apokalypse, niemals! Warum uns der Klima-Alarmismus krank macht“, schaffte es auf die Bestsellerliste der „New York Times“. Shellenberger versteht sich als Umweltschützer – und plädiert wie Nuklearia für Kernkraft.

Michael Shellenberger ist Bestseller-Autor und warnt Europa davor, Atomkraft zu verteufeln.
Michael Shellenberger ist Bestseller-Autor und warnt Europa davor, Atomkraft zu verteufeln.
© ©Gabriel Harber Photography

Er glaubt, dass viele Deutsche sich über die Möglichkeiten der Energiewende täuschen und die Atomenergie dämonisiert haben. In seinem Buch schreibt er, mit steigenden Kohlendioxid-Emmissionen und Stromkosten – „den gegenwärtig höchsten in Europa“ – zeige Deutschland, dass erneuerbare Energien nicht reichen, um ein hochenergetisches Wirtschaftssystem mit Strom zu versorgen.

Wie sind die Reaktionen bei solchen Demos? Jüngere seien tolerant, sagt Adrian Glaubitz, „die Aggressiven waren immer die Älteren“. Bei einer Kundgebung vor dem Willy-Brandt-Haus, Sitz der SPD-Zentrale, sei er von einer Frau, die sein Pro-Atom-Schild sah, angeherrscht worden: „Was fällt Ihnen denn ein?“ Er muss lachen, als er das erzählt.

Ein einziges Mal, als Nuklearia-Mitglieder bei einer Fridays-for-Future-Kundgebung für Kernenergie warben, gab es Ärger: Der Aktivistin Britta Augustin wurde ihr Schild entrissen und zerstört. Augustin, Informatikerin, setzt sich seit Jahren für Atomenergie ein und gehört zum Nuklearia-Vorstand. Auf der Internetseite des Vereins erklärt sie, dass sie an der internationalen Kampagne „Critical Climate Action“ mitwirke. Sie wolle deutlich machen, „dass wir zwar eine Krise haben, aber es Hoffnung auf eine Lösung gibt. Kernenergie ist Teil dieser Lösung, so wie es der Weltklimarat aus dem aktuellen Stand der Wissenschaft ableitet“. Die Shellenberger-Argumentation.

Auch der Gründer von Nuklearia, der in Dortmund lebende Rainer Klute, ist Informatiker. Sein Motiv war ausgerechnet die Katastrophe von Fukushima. 2011 zerstörten ein Erdbeben und ein Tsunami vier von sechs Blöcken des japanischen Atomkraftwerks, drei davon durch Kernschmelze; Radioaktivität wurde freigesetzt – zehn bis 20 Prozent der Menge, die bei der Tschernobyl-Havarie in die Umwelt gelangte. Das zeigt eine Studie der Colorado State University von 2013.

Rainer Klute, Vorsitzender von  Nuklearia.
Rainer Klute, Vorsitzender von Nuklearia.
© picture alliance/dpa

Klute sorgte sich, wie er am Telefon erzählt, um seinen Sohn, der etwa 100 Kilometer entfernt lebte. Damals sei er in der Piratenpartei gewesen, habe sich in einem Arbeitskreis für Kernenergie eingesetzt, das Kraftwerk Emsland besucht, auch Kontrollbereich und Zwischenlager mit Castor-Behältern für alte Brennstäbe.

Deshalb habe er „besser verstanden, was in Fukushima passierte“ – und sich „so geärgert“ über die deutschen Medien. Deren Berichte empfand er als Panikmache. Von „Atomhorror“ sei die Rede gewesen. Verbreitet worden sei nur das, was Angst machte, nicht das, was beruhigen konnte.

Klute wollte dem etwas entgegenzusetzen. Er gründete den Verein Nuklearia. Der hat heute 475 Mitglieder, finanziert sich durch Spenden und ist politisch keiner Partei nahe. Allerdings betont Klute: „Ich habe noch nie AfD gewählt und werde das auch nicht tun!“ Ein einziges Mal habe er vor Mitgliedern der AfD-Bundestagsfraktion geredet, genauer: vor deren Arbeitskreis Umwelt und nukleare Sicherheit. Hinterher habe er, ahnend, was das nach sich ziehen würde, einen Blog-Beitrag verfasst. Titel: „Nicht nur die AfD sollte einen Plan B haben.“

Zu dem ganzen Gas-Kram brauchen wir eine Alternative

Rainer Klute, Gründer von Nuklearia

Ein Nuklearia-Vorstandskollege habe mal der AfD angehört, sei aber inzwischen ausgetreten. Zweimal habe er, Klute, als Sachverständiger in Ausschüssen des Landtags von Nordrhein-Westfalen vor AfD-Abgeordneten gesprochen – auf Einladung der Ausschussvorsitzenden, nicht der AfD-Fraktion. Das sei ihm wichtig, sagt Klute. Nuklearia verstehe sich als parteipolitisch neutral. „Ich denke, wir hätten es leichter, wenn die AfD dagegen wäre. Naja, inzwischen hat sich das mit der ,einzigen Partei für Kernenergie‘ ohnehin erledigt.“

Für Klute ist klar, „dass man derzeit keine Kraftwerke abschalten kann“. Die Abhängigkeit von russischem Erdgas sei – „auch ohne Putin“ – nicht vorübergehend, Wind- und Sonnenenergie ohne Speichertechniken nicht verlässlich. Die Speichertechnik gebe es nicht in dem Umfang, der nötig sei, um ganze Industrien auf fossilfreie Energie umzustellen. „Zu dem ganzen Gas-Kram brauchen wir eine Alternative“, sagt er. „Kernenergie.“

Man habe keine direkten Verbindungen in die Politik, sagt Klute, ein einziges Mitglied sei als Politikberater unterwegs. Man treffe sich bei Demos. 2019 habe man vor dem Kernkraftwerk Philippsburg gegen dessen Stilllegung protestiert. „100 bis 120 Leute“ seien es gewesen, „ein ganz guter Anfang“. Wenn überhaupt, ist der Verein ein medialer Faktor.

Ich habe keine Problem damit neben einem Endlager zu wohnen.

Rainer Klute, Gründer von Nuklearia

2020 und 2021 habe man vor den damals noch sechs laufenden Kraftwerken dafür demonstriert, Strom aus der Kernkraft weiter zu nutzen. Klute sieht die Bedeutung solcher Aktionen vor allem darin, dass sich die Nuklearia-Mitglieder mal begegnen. Es sei immer „sehr dynamisch, manchmal chaotisch“. Was die Wirkungsmacht der Bewegung angeht: „Das meiste passiert über Twitter.“

Und das Atommüll-Problem? Die Angst der Leute? „Da muss man sich drum kümmern“, sagt er. „Das Klima-Problem ist größer als das Atommüll-Problem. Der tut nichts Böses“, sagt er. Er hält das für einen Scherz. Und, fährt er fort, er habe kein Problem damit, „neben einem Endlager zu wohnen“.

So lässig gehen nicht alle mit der Müll-Problematik um. Anna Veronika Wendland, Autorin des Buchs „Atomkraft? Ja bitte!“ hat Verständnis für Ängste von Atomkraft-Gegnern. „Aber man kann halt zeigen, dass die Entsorgung ein lösbares Problem ist“, sagt sie, „und schwere Reaktorunfälle in den deutschen Anlagen nach menschlichem Ermessen nicht passieren können.“

Wendland ist eine der Vordenkerinnen der Pro-Kernenergie-Bewegung. Sie streitet in Interviews und auf Twitter für ihre Überzeugung, dass angesichts des Klimawandels und der Energiekrise „Kernkraft uns jetzt retten kann“. So lautet der Untertitel ihres Buchs. Und streiten kann sie.

Anna Veronika Wendland gilt als Vordenkerin der Pro-Kernenergie-Bewegung.
Anna Veronika Wendland gilt als Vordenkerin der Pro-Kernenergie-Bewegung.
© Stephan Röhl

„Es war ein Umdenkprozess über Jahre“, sagt sie über sich am Telefon. „Links sein und gegen Atomkraft – das war ein Paketangebot: Man griff Symbole des Staates an.“

Bis zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 hatte sich die heute 56 Jahre alte Historikerin wenig Gedanken um Atomkraft gemacht. Das Unglück änderte das. Die Technik-Faszination ihrer Kindheit war wieder da, ein Interesse am Europa hinter dem Eisernen Vorhang erwachte. Sie sah die Fotos des zerstörten Reaktors, informierte sich über die Opfer, wurde politisch aktiv. „Wenn die Folgen sogar bei uns zu messen sind – was muss dann erst vor Ort los sein?“, schreibt sie. Sie konzentrierte sich auf Technikgeschichte, zog 1989 in die Ukraine, studierte in Kiew, forschte und arbeitete in Atomkraftwerken.

Links sein und gegen Atomkraft – das war ein Paketangebot.

Anna Veronika Wendland, Historikerin

Wendland habilitierte sich mit der Arbeit „Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeit und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966 – 2021“. Auch bei Nuklearia war sie dabei. Sie sei aber öfter mit einem konservativen Vorstandsmitglied aneinandergeraten. Der habe ihr unterstellt, sie wolle Nuklearia für ihre linksliberale, ökomodernistische politische Richtung nutzen. Da habe sie gedacht: „Der Konflikt nimmt mir zu viel Energie weg.“ Wenn bei Nuklearia mehr junge Leute aktiv würden, trete sie vielleicht wieder ein.

Wendland hat nichts von einer unnahbaren Expertin – null Arroganz, viel Wissen, noch mehr Erklärungsgeduld. Die Herkunft aus der linken Kölner Alternativszene ist ihrem lockeren Ton anzumerken. Das zweite Kapitel ihres Buches trägt den Titel „Von der Atomgegnerin zur Atomforscherin“.

Ihr Engagement begründet sie mit der Notwendigkeit, Klimaschutz und Erfordernisse eines Industrielands zu verbinden. Kernenergie mache das möglich. Im Vergleich sei Kohle „eine Killerindustrie“. Kohle habe viele Menschen „vorzeitig zu Tode gebracht“ – unvergleichlich viel mehr als Atomenergie.

Der Bundesregierung hält Wendland Unehrlichkeit vor: „Die Druckwasserreaktoren in Deutschland sind technisch auf der Höhe und genügen den höchsten Sicherheitsstandards.“ Aber die Grünen betrieben eine „Anti-Evidenzpolitik“. Weil die Absage an die Atomenergie das Einzige sei, was „vom alten grünen Portfolio noch übrig ist“, hänge man am Nein zur Atomkraft. Außerdem seien die Erneuerbaren Energien auch nicht hundertprozentig sicher. Bei der Rohstoffbeschaffung entstünden giftige Nebenprodukte, Arsen etwa. Auch die Sicherheit der Anlagen vor Cyberangriffen sei ein Problem.

Mit dem Energiewende-Kurs bedienten Politik und Wirtschaft „eine Despotenpumpe“, wie Wendland sagt: Russisches Gas werde benötigt, weil die Wirtschaft es zum Geldverdienen brauche. Die deutsche Industrie nutze ihren Kostenvorteil, um hochwertige Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen, vorzugsweise in China.

Da entstehe eine gefährliche Abhängigkeit, wenn zum Beispiel Solarmodule zu großen Teilen aus der Volksrepublik importiert werden müssen. Sie schlägt mehr von dem vor, was bisher „GAU-frei“ funktioniert: mittelfristig neue Druckwasser-Reaktoren mit fortgeschrittenen Sicherheitssystemen bauen. Und sehen, was sich sonst entwickelt, etwa bei der Kernfusion.

Ob die Deutschen dazu bereit sind, die Atomkraftwerke erst mal noch zu akzeptieren? Ob die Grünen und die unentschlossenen Sozialdemokraten willens sind, den Atomausstieg zurückzunehmen? Der BUND droht bereits mit einer Klage, sollte die Bundesregierung längere Laufzeiten der Atomkraftwerke anstreben. Ein Endlager für das, was den Menschen Angst macht, strahlender Müll, ist nicht gefunden.

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